Tagebuch in der Rottenburger Post vom 5.6.2020

Gabriele Lenz
Pflegeberatung/Pflegesachverständige aus Rottenburg/Ergenzingen


Reservistin in der Pflege in Zeiten von Corona

Reservisten kennen wir von der Bundeswehr als Menschen, die früher ihren Wehrdienst ausgeübt haben und in Krisenzeiten zur Bundeswehr zurückkehren. Und so mache ich es derzeit auch im Pflegebereich.

Als Beraterin für Menschen mit Hilfebedarf im Bereich Pflege und Beraterin für ambulante Pflegedienste und Pflegeheim kam meine Selbstständigkeit am 11. März 2020 vollständig zum Erliegen. Erst dachte ich, cool, endlich mal Zeit, um in Ruhe meine Vorträge vorzubereiten, aufzuräumen, Zeit für die Familie zu haben. Aber nach den ersten vier Wochen „Zeitgewinn" kam die Frage: Wie soll es weitergehen? Ist irgendwann die gewohnte Arbeit wieder möglich?

Die nahezu täglichen Veränderungen und Vorgaben gab ich meinen Kunden weiter, bis ich dann den Aufruf des Sozialministeriums Baden-Württemberg las. Ich bewarb mich nach einigen Überlegungen auf der Online Plattform #pflegereserve.

Innerhalb weniger Stunden erhielt ich Dutzende von Angeboten sowohl von ambulanten Pflegediensten bis zu Pflegeheimen – und alle in der näheren Umgebung. Ich machte mir die Auswahl einfach: Ich gab meine Kontaktdaten ein und sagte mir, wer sich zuerst meldet, bei dem beginne ich mit meiner Unterstützung; und nun arbeite zu 50 Prozent in einem ambulanten Pflegedienst. Ich bin wieder für die Menschen da und unterstütze sie bei den Aufgaben der Pflege, die vom jeweiligen Kunden „eingekauft" wurden. Es macht mir Spaß, mal wieder altes, erlerntes Wissen anzuwenden. Die Kollegen sind nett und sehr bemüht, mir die Arbeitsabläufe genau beizubringen. Aber es ist sehr nervig, kaum wirklich Zeit für die Menschen zu haben.

Sie haben zuhause oft schon viele Wochen keine Besuche mehr von ihren Angehörigen erhalten können. Häufig sind die Pflegekräfte die einzigen Kontakte zur Außenwelt und die einzigen Personen, die den Haushalt betreten dürfen. Da ist die Sehnsucht natürlich groß, mal auch nur ein Gespräch zu führen und sich mit seinen Ängsten und Sorgen auszusprechen. (Aus Sorge vor Ansteckung haben dabei einige Kunden auch noch die Einsätze der Pflegekräfte abgesagt.) Aber das „System" lässt eine intensivere Art der Pflege nicht zu.

Stattdessen gibt es ein Handy, in dem jede Minute der Zeit, die man beim Kunden verbringt, erfasst wird. Die Uhr tickt unerbittlich und zeigt den nächsten Patienten an, der ebenfalls innerhalb einer bestimmten Frist einer jeweiligen Schicht versorgt werden will. Es gibt ganz einfach viel zu wenig Personal, um in der zur Verfügung stehenden Zeit das Notwendige leisten zu können und das zu erbringen, was diesen an sich immer noch schönen Beruf ausmacht und ausgezeichnet: Mitmenschlichkeit, Anteilnahme und das Gefühl, nicht nur funktional die Körperpflege durchzuführen, sondern auch mit einem geschenkten „Lächeln" einen Pflegebedürftigen zu verlassen, oder mit ein paar Minuten eines gemeinsamen Gesprächs, um so den Tag etwas aufzuhellen und freundlicher zu machen.

Mir scheint, es ist jetzt an der Zeit, die Chance zu ergreifen und für ausreichende Zeit in der Pflege für unsere Patienten einzutreten und öffentlich zu kämpfen. Sonst haben wir Pflegekräfte nicht verstanden, was wir in den letzten Wochen geleistet haben und was das Gebot der Stunde ist.